Geschichte der Estländischen Ritterschaft

Die Estländische Ritterschaft blickt auf eine lange Geschichte zurück und ist die älteste der vier baltischen Ritterschaften von Estland, Livland, Kurland und Oesel. Hervorgegangen aus einem 1252 erstmals urkundlich erwähnten Zusammenschluß überwiegend deutscher Vasallen in dem bis 1346 dänischen Nordestland (Harrien estnisch Harju und Wierland Virumaa, hat sie sich in einem längeren Prozeß, der im wesentlichen mit dem Ende der Herrschaft des Deutschen Ordens (1561) abgeschlossen war, von der ursprünglichen Interessengemeinschaft zu einem das ganze Land (mit Ausnahme der Städte) einschließlich seiner bäuerlichen estnischen Bevölkerung repräsentierenden politischen Stand entwickelt. Sie nahm auch unter schwedischer (seit 1561) und russischer (seit 1710) Oberherrschaft auf der Basis der bei jedem Wechsel des Souveräns erfolgten Bestätigung der Landesprivilegien öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungsaufgaben wahr. Diese sahen eine weitgehende Autonomie sowohl bei der Verwaltung des flachen Landes als auch der Rechtssprechung über dessen deutsche und estnische Bevölkerung vor und garantierten die Ausübung der evangelisch-lutherischen Religion Augsburger Konfession sowie des Deutschen als Behördensprache. Die Besitzer von Rittergütern waren zu diesem ehrenamtlichen „Landesdienst“ verpflichtet; durch alle drei Jahre stattfindende Wahlen wurden die verschiedenen Landesämter besetzt.

Der Zusammenbruch der beiden Kaiserreiche Rußland (1917) und Deutschland (1918) schuf im baltischen Raum die Voraussetzung für die Entstehung neuer Nationalstaaten. Diese Gelegenheit nutzten auch die Esten und riefen am 24. Februar 1918 die Republik Estland aus, in der die Deutschen nur noch eine kleine nationale Minderheit und nicht mehr wie bisher die Oberschicht darstellten, löste die Ritterschaft als öffentlich-rechtliche Institution auf und enteignete die Rittergüter.

Die jetzt nur noch als privatrechtliche Vereinigung unter der Bezeichnung Estländischer Gemeinnütziger Verband weiterbestehende Ritterschaft konnte auf eine bemerkenswerte historische Leistung zurückblicken: Zusammen mit dem städtischen Deutschtum hatte sie Estland im Laufe der Jahrhunderte wesentlich geprägt und ihm den unverwechselbaren Charakter eines zum westeuropäischen Kulturkreis gehörenden Landes gegeben. Dies wird heute, nachdem das 1940 von der Sowjetunion annektierte Estland im Jahre 1991 seine staatliche Unabhängigkeit wiedererlangt hat, auch dort uneingeschränkt anerkannt.

 

Die Angehörigen der Ritterschaft wurden wie die übrigen Deutschen in Estland, sofern sie nicht bereits nach 1918 das Land verlassen hatten (und sich in Deutschland im Verband Angehöriger des Estländischen Stammadels wieder organisiert hatten), 1939/40 als eine direkte Folge des Hitler-Stalin-Pakts in das von Deutschland besetzte Polen (Warthegau) umgesiedelt. Sie verloren damals unwiederbringlich ihre Heimat, in der die meisten Familien viele Jahrhunderte lang verwurzelt waren – als „erste Opfer“ des Hitler-Stalin-Pakts, wie der estnische Staatspräsident Lennart Meri einmal treffend bemerkte. In der Zwischenkriegszeit hatten die meisten von ihnen unter bescheidenen materiellen Verhältnissen als estnische Staatsangehörige in der angestammten Heimat ausgeharrt, wo ihnen die Republik Estland durch eine international als vorbildlich anerkannte Minderheitengesetzgebung eine weitgehende Kulturautonomie einräumte (1925).

 

Seit Kriegsende lebt die Mehrzahl der Angehörigen der Ritterschaft in Deutschland, wo heute die Estländische Ritterschaft in den Verband der Baltischen Ritterschaften integriert ist (in den schweren Nachkriegszeiten sind zahlreiche Mitglieder aller vier Ritterschaften vor allem nach Kanada und Schweden ausgewandert, wo sie eigene Bezirksgruppen gegründet haben).