Geschichte der Livländischen Ritterschaft

Im Zuge der Kolonisierung und Missionierung kamen auf dem Seeweg seit dem 12. Jahrhundert zusammen mit deutschen Fernhändlern, Priestern und Handwerkern auch ritterliche Kreuzfahrer zumeist aus Westfalen und Niedersachsen in das Gebiet des heutigen Estland und Lettland, das im Mittelalter „Livland“ genannt wurde. Sie christianisierten es und gliederten es damit in den abendländischen Kulturkreis ein. Während viele, besonders die Angehörigen des deutschen Hochadels, die an den Kreuzfahrten in das vom Papst 1202 der Jungfrau Maria geweihte Livland teilnahmen, in der Regel nach Ablauf ihres Pilgerjahres wieder nach Deutschland zurückkehrten, wurde Livland für die Vasallen, die mit Land belehnt und ansässig wurden, zum "Blivland". Diese Belehnungen erfolgten aufgrund des sächsischen Lehnsrechts durch die jeweiligen Landesherren: den Erzbischof von Riga, seine Suffraganbischöfe von Dorpat, Oesel-Wiek und Kurland, die alle Fürsten des Heiligen Römischen Reichs waren, sowie durch den Deutschordensmeister, der erst nach der Säkularisierung des Deutschen Ordens in Preußen 1527 Reichsfürst wurde. Innerhalb der einzelnen Territorien Alt-Livlands schlossen sich die Vasallen zur Verteidigung und Erhaltung ihrer Rechte und Besitztümer zu "Ritterschaften" zusammen, die als feste geschlossene korporative Organisationen bereits im 14. Jahrhundert mit landständischen Rechten anerkannt wurden. Die Ritterschaften bildeten eine Klasse, die nur aus freien Vasallen, aus Pfandbesitzern und sogar aus unbesitzlichen freien Edelleuten bestand. Die Vasallen sind streng von den Ordensrittern zu unterscheiden, die geistlichen Standes waren, im Zölibat lebten, kein Lehnsgut besitzen durften und in der Regel nicht den landsässigen Adelsgeschlechtern entsprossen. Schon recht früh gelang es ihnen, das Mannlehnrecht so zu erweitern, dass die Lehngüter nicht an die Lehnsherren heimfielen, sondern praktisch Allodialeigentum wurden.

Bei der Auflösung des altlivländischen Ordens- und Bischofsstaates als nordöstliche Mark des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1561/62 hatten die Ritterschaften mittlerweile eine so bedeutende Machtstellung erworben, dass sie selbständig mit den neuen Schutzmächten - Polen und Schweden - gegen die in das Land hereinbrechenden Scharen des Zaren Iwan IV. verhandeln und Verträge abschließen konnten. Der Ordensmeister, die Ordensvasallen, die Ordensstädte und der Erzbischof von Riga unterwarfen sich unmittelbar dem König Sigismund II. August von Polen aufgrund seines berühmt gewordenen Privilegs von 1561. Die einzelnen Ritterschaften in den Territorien des späteren Livland, das den nördlichen Teil des heutigen Lettland und einen erheblichen Teil des Südens des heutigen Estland umfasste, vereinigten sich zu Beginn der polnischen Herrschaft zu einer Korporation, der Livländischen Ritterschaft. Ihr wurde vom König von Polen im Jahre 1566 anlässlich der Vereinigung Livlands und Litauens das oben abgebildete Wappen verliehen. Es handelt sich um das Wappen des livländischen Administrators und Feldherrn Jan Chodkiewicz mit den Initialen Sigismund Augusts.

 

Der König von Polen erkannte als neuer Landesherr die Livländische Ritterschaft, die bis dahin dem deutschen Reichsadel angehörte, als Vertretung des Landes an und bestätigte ihr ihre bisherigen Rechte, Anwendung deutschen Rechts und deutscher Sprache, deutsche Verwaltung, der Güterbesitz und die freie Religionsausübung nach dem Augsburgischen Bekenntnis. Das vom König von Polen gewährte Privilegium Sigismundi Augusti von 1561 wurde für die folgenden Jahrhunderte unter der Fremdherrschaft das Fundament des livländischen Landesstaates. Das bedeutete, dass der deutsche und lutherische Charakter des Landes weiterhin gesichert war. Auch als die Landesherren bedingt durch die politischen Ereignisse wechselten, wurden diese Rechte und Privilegien der Ritterschaft stets bestätigt. Das geschah, als Livland 1629 an Schweden und 1710 an Russland kam. Peter I. von Russland bestätigte der Livländischen Ritterschaft bei ihrer freiwilligen Unterwerfung 1710 alle ihre Privilegien. Sie wurden im Friedensvertrag von Nystad 1721 völkerrechtlich sanktioniert und fanden in der Form einer Kodifikation öffentlich rechtliche Anerkennung durch die beiden ersten Teile des „Provinzialrechts der Ostseegouvernements“, die Behördenverfassung und das Ständerecht, die am 1. Januar 1846 in Kraft traten. Dabei gelang es den vier baltischen Ritterschaften, viele Rechte, die sie jahrhundertelang verteidigt und entwickelt hatten, insbesondere ihre geschlossenen Adelsmatrikeln und Korporationsrechte sowie, gegen die Widerstände der Städte Riga und Reval, ihr ausschließliches Güterbesitzrecht durchzusetzen. Auf diesen Vereinbarungen beruhte bis 1918 die autonome ständische Landesverwaltung der deutschen "Ostseeprovinz" Russlands und die Selbstverwaltung der Ritterschaft. Sie sicherten den Fortbestand der deutschen Kultur und Sprache sowie des lutherischen Glaubens und ermöglichte dem von den Letten und Esten bewohnten Land, seine deutschrechtliche politische Eigenständigkeit und sein abendländisches Gepräge auch während der Zugehörigkeit zum russischen Reich zu bewahren.

Während in den meisten deutschen Staaten die Stände von den nach absoluter Macht strebenden Landesfürsten ihrer politischen und administrativen Funktionen mehr und mehr entkleidet wurden, gelang es der Livländischen Ritterschaft, diese gegenüber ihren nichtdeutschen Landesherren nicht nur zu behaupten, sondern sogar zu erweitern und auszubauen. Unter der Herrschaft der russischen Kaiser besetzten die ritterschaftlichen Großgrundbesitzer als Träger der Provinzial-Selbstverwaltung durch Wahl alle Landesämter in Justiz, Polizei, Kirchen- und Schulverwaltung, Post und Wegebau. Sie besaßen das Recht der Steuererhebung und der Gesetzesinitiative. Erst durch die Russifizierungsmaßnahmen Ende des 19. Jahrhunderts wurden ihnen die Rechtspflege, die Polizeihoheit und die Verwaltung des Landvolksschulwesens entzogen.

Das Ritterhaus in Riga, erbaut 1862
Das Ritterhaus in Riga, erbaut 1862

Der höchste Repräsentant der Livländischen Ritterschaft war der Landmarschall und das wichtigste Organ war das 1643 geschaffene Landratskollegium, das anfänglich aus sechs, später aus zwölf Landräten bestand, die auf dem Landtag aus der Zahl der besitzlichen immatrikulierten Edelleute auf Lebenszeit gewählt wurden. Der Landtag bestand nur aus ritterschaftlichen Gutsbesitzern und -pächtern, und das Recht des Besitzes oder Pachtens der Rittergüter stand bis 1865/66 ausschließlich den indigenen Ritterschaftsangehörigen zu. Die vom Landtag gewählten ritterschaftlichen Landesbeamten übten ihre Ämter zum Wohle des ganzen Landes ehrenamtlich ohne Entgelt aus. Die Ablehnung eines vom Landtag übertragenen Amtes war ohne zwingende Gründe nicht statthaft. Ein unentschuldigtes Fernbleiben von den Landtagen wurde mit Geldstrafe geahndet. Die gesamte ritterschaftliche Selbstverwaltung wurde durch freiwillige Selbstbesteuerung und auf der materiellen Grundlage des Landbesitzes finanziert. Reinhard Wittram stellte in seiner "Baltischen Geschichte" fest: "Der ehrenamtliche Landesdienst war die Grundlage der aristokratischen Ritterschaftsverfassung, die in der Unbestechlichkeit, Formlosigkeit und gewissen traditionsgebundenen Umständlichkeit ihres patriarchischen Wesens eine politische Kraft besaß und eine Art Staatsgefühl erzeugte, für das es nichts Höheres gab, als - das Land." Bezeichnend ist der Ausspruch des livländischen Landmarschalls Hamilkar Baron v. Fölkersahm, der in Livland 1849 die Bauernverordnung gegen die konservative Landtagspartei durchsetzte und damit die Bauernbefreiung vollendete: "Nicht die Rechte, die jemand ausübt, sondern die Pflichten, die er sich auferlegt, geben ihm den Wert!"

 

Nach dem anerkannten uneingeschränkten Korporationsrecht der Ritterschaft konnten diese sich nach eigenem freien Ermessen ergänzen und durften selbst von den Landesherren nicht zu Aufnahmen gezwungen werden. In Livland wurde die Matrikel nach zwei Entwürfen der Jahre 1742 und 1745 im Jahre 1747 fertiggestellt. Sie enthielt 172 Geschlechter. Voraussetzung für die Immatrikulation war die Zugehörigkeit zum Adel, einschließlich des russischen Dienstadels, und der Besitz eines Rittergutes. Durch diese Adelsmatrikel war der einheimische ritterschaftliche Stamm- oder Indigenatsadel als geschlossene ständische Adelskorporationen deutlich vom sonstigen Adel im Lande verschiedenster Herkunft, insbesondere dem russischen Reichs- und Dienstadel, abgegrenzt. Die Matrikel wurde infolge Rezeptionen einzelner Personen nach den Regeln der Landtagsordnungen bis in die jüngste Zeit fortgeschrieben. Der Kandidat wurde einem Ballottement unterworfen und musste dreiviertel aller Stimmen erhalten. Heute umfasst die livländische Matrikel 446 Eintragungen, die 378 Geschlechter betreffen, die dem Deutschen Adel zugerechnet werden.

 

Nach der Revolution in Russland von 1917/18, dem Friedensschluss von Brest-Litowsk und den Friedensschlüssen zwischen der UdSSR und den neuen Republiken Estland und Lettland veränderte sich die politische und soziale Struktur im Baltikum grundlegend. Die Ostseeprovinz Livland wurde geteilt; der nördliche von Esten bewohnte Teil kam zum Freistaat Estland, und der südliche von Letten bewohnte Teil kam zum Freistaat Lettland. Diese Staaten lösten 1920 die Ritterschaft als Organe des öffentlichen Rechts auf und zogen ihr Vermögen ein. Durch die Agrarreformgesetze wurde der private Grundbesitz nahezu entschädigungslos enteignet. Nach Verlust ihrer öffentlich-rechtlichen Funktion schuf die Ritterschaft sich neue Organisationsformen als Verein auf privatrechtlicher Grundlage. In Riga wurde 1920 der "Livländische Gemeinnützige Verband" gegründet, und die in das Deutsche Reich emigrierten Ritterschaftsangehörigen gründeten in Rostock den „Verband des Livländischen Stammadels“. Diese Verbände setzten die Tradition der Ritterschaft fort und gaben das "Genealogische Handbuch der livländischen Ritterschaft" heraus. Nach der Umsiedlung der Deutschbalten in das Deutsche Reich als Folge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 kam es 1941 erstmals zu einem Zusammenschluss aller vier baltischen Ritterschaften von Livland, Estland, Kurland und Oesel, dem "Verband für Sippenkunde und Sippenpflege der Angehörigen der ehemaligen Baltischen Ritterschaften e. V." mit dem Sitz in Posen. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und der Flucht aus dem Osten wurde im Jahre 1949 der heutige „Verband der Baltischen Ritterschaften e.V.“ gegründet, in dem die Livländische Ritterschaft gemeinsam mit ihren drei Schwesterritterschaften integriert ist.

 

Zu den Hauptaufgaben der Livländischen Ritterschaft gehört heute die Pflege ihrer Geschichte sowie der Kontakte und die Sammlung der Angehörigen der in ihre Matrikel eingetragenen Adelsgeschlechter. Hierzu werden vom Ritterschaftsgenealogen die Genealogien dieser Familien erforscht, laufend aktualisiert und veröffentlicht. Die Livländische Ritterschaft hat keine eigenen Werke und Einrichtungen, aber das Vermögen des Gesamtverbandes stammt von Livländern.