Ritterschaftlicher Dialog 2018

Schnittmengen im Resonanzraum – ein anregender Dialog zum Thema baltische Identität

Um es gleich vorweg zu sagen: Eine Zauberformel für das friedliche Zusammenleben verschiedener Nationalitäten wurde beim Ritterschaftlichen Dialog 2018 ebenso wenig entdeckt wie gemeinsame Charaktermerkmale aller historischer und heutiger Bewohner des Baltikums. Das war aber auch gar nicht das Ziel des diesjährigen Dialogs, den die Öselsche Ritterschaft unter dem Motto „Identität und Kultur im Resonanzraum Baltikum“ vom 1. bis zum 3. Juni in Schloss Höhnscheid veranstaltete.

 

Es ging vielmehr darum, das Nachdenken und die Diskussion über die eigene Identität und die der anderen Bewohner des Baltikums anzuregen. Den Begriff „Resonanzraum Baltikum“ hatten die Veranstalter gewählt, um deutlich zu machen, dass in dieser Region seit Jahrhunderten unterschiedliche Kulturen, Machtansprüche und Ideologien aufeinanderstoßen und auf die dort lebenden Menschen einwirken. Drei Referenten und rund 40 Teilnehmer beschäftigen sich über das Wochenende mit ihrer Beziehung zum Baltikum. Sie stellten dabei fest, dass Identität etwas sehr Flüchtiges ist und sich nur schwer in Worte fassen lässt. Das zeigte sich schon bei der Vorstellungsrunde am Freitagabend: auch unter den Mitgliedern der Ritterschaften ist das baltische Element in ihren Biographien nicht deckungsgleich. Allein die Tatsache, dass an dem Abend in wechselnden Konstellationen neben Deutsch auch Englisch, Russisch und Schwedisch gesprochen wurde verdeutlichte die unterschiedlichen Lebenswege der Teilnehmer.

 

Als erster Referent bot der Historiker Prof. Dominic Fürst v. Lieven am Samstagvormittag seinen Zuhörern ein brillantes Feuerwerk an Gedanken mit mehr oder minder offensichtlichem Bezug zum Thema Baltikum und Identität. Fürst Lieven ist Senior Research Fellow am Trinity College Cambridge. Als Autor zahlreicher Werke über die russische Geschichte zeichnet er sich gegenüber seinen westlichen Fachkollegen dadurch aus, dass er auch in russischen Archiven forscht. In seinem neuesten Buch „Towards the Flame: Empire, War and the End of Tsarist Russia” von 2015 findet sich eine These über die gegenläufigen Kräfte von Imperialismus und Nationalismus, die auch für den Dialog eine bedeutende Rolle spielte. Demnach bauen die europäischen Mächte einerseits Imperien auf, die über ethnische Grenzen hinausgreifen. Im Kernland legitimieren sie sich gegenüber den Massen zunehmen durch nationalistische Parolen. Dies erschwert das Zusammenleben der verschiedenen Völkerschaften innerhalb der Imperien und gefährdet dadurch deren Fortbestand. Unsere baltische Geschichte ist dafür das beste Beispiel. Lebten unsere Vorfahren im russischen Kaiserreich zunächst weitgehen ungestört mit den Russen und konnten sich auf der Ebene ähnlicher aristokratischer Werte mit den Eliten des Reiches verständigen, wurde ihre Position mit dem Aufkommen des Nationalismus immer schwieriger. Die Bauern von einst rebellierten gegen die fremden Barone, die Regierung in St. Petersburg schränkten die deutschen Autonomierechte immer stärker ein, um nationalistische, slawisch-orthodox gesinnte Hardliner zufriedenzustellen.

 

Fürst Lieven selbst ist ein Beispiel für einen interessanten baltischen Lebenslauf. Sein Vater wuchs in Frankreich und Belgien auf, kam später nach Großbritannien und heiratete eine katholische Irin. „Mein Leben ist ein Kampf gegen den Versuch, mir eine Identität aufzuzwingen“, fasste Fürst Lieven seine eigene Position zusammen. Aus seinen Ausführungen wurde klar, dass er – wie auch viele der Teilnehmer – die Tendenz, das Nationale absolut zu setzen, für problematisch hält.

 

Die in Estland gebürtige, heute in Deutschland lebende Anna Krawtschenko brachte eine für ritterschaftliche Kreise neue und ungewohnte Perspektive ein. Sie schilderte aus ihrer eigenen Erfahrung die Situation der russischsprachigen Minderheit. Obwohl sie selbst keine russischen Wurzeln hat, gehörte sie in Estland durch ihre Sprache zur den „Russen“, ob sie wollte oder nicht – in ihrem multikulturellen Elternhaus war Russisch Umgangssprache. Die Auseinandersetzung um den „Bronzesoldaten“, das sowjetische Denkmal, das 2007 aus dem Stadtkern von Reval/Tallinn auf einen Soldatenfriedhof am Stadtrand umgesetzt wurde und die darauf folgenden, von Russland geschürten Krawalle bewirkten eine Veränderung in ihrem Leben. Plötzlich sah sie sich von einer Mauer der Ablehnung seitens ihrer estnischen Mitbürger umgeben. Damals beschloss sie, auszuwandern. „Ich wollte lieber als Fremde in einem fremden Land leben als in dem Land, in dem ich geboren bin“, so Krawtschenko. Sie kritisierte die Haltung der estnischen Politik, einerseits die Entstehung russischer Parallelgesellschaften zu tolerieren, andererseits aber den kaum integrierten Russen Rechte vorzuenthalten. „Die Regierung hätte alle Schulen konsequent und frühzeitig auf estnische Unterrichtsprache umstellen müssen, um zu verhindern, dass im Land eine große Gruppe von Menschen lebt, die nie Estnisch lernt und es auch nicht braucht, weil in ihrer Welt jeder Russisch spricht.“ Proteste von russischer Seite hätte man hinnehmen müssen, aus dieser Ecke würde ohnehin jeder Anlass genutzt, um die baltischen Staaten zu kritisieren. Krawtschenko definiert sich heute selbst als „Osteuropäerin“. „Ein bisschen beneide ich die Angehörigen der Ritterschaften um ihre starke Identität“, sagte sie am Schluss der Veranstaltung.

 

Andreas Rogal, freier Journalist in Brüssel, ging das Thema wiederum von einer ganz anderen Seite an. Er hat mütterlicherseits Keyserlingsche Vorfahren, ist mit einer Lettin verheiratet und näherte sich der Frage einer baltischen Identität an Hand von Texten aus den Federn verschiedener Keyserlings. Der Philosoph Hermann Graf v. Keyserling (1880 – 1946) zeichnete in seinem „Spektrum Europas“ ein wenig schmeichelhaftes Bild der Völker, die nach seiner Meinung allesamt „natürlich scheußlich“ seien. Den nationalen Minderheiten, insbesondere denen, die gerade eine privilegierte Stellung eingebüßt hatten, schrieb er hingegen eine geradezu messianische Rolle bei der Erschaffung einer besseren Welt zu:

 

"Aber jetzt winkt ihnen [den Minderheiten] ein neues Privileg: Böses mit Gutem dadurch zu vergelten, dass sie alle Kraft daran setzen, Ungerechtigkeit für die Zukunft unmöglich zu machen. Das Häßliche und Grausame, das sich in der Seele der Neuhochgekommenen so hochgradig manifestiert, ist zu einem sehr großsen Teil die Folge früher fehlender Aufstiegsmöglichkeit: solch seelischen Verbildungen muss für die Zukunft vorgebeugt werden. Es darf überhaupt keine Bedrückten und Nicht-Geachteten mehr geben. Ja, den verfolgten Minderheiten steht insofern eine unmittelbar messianische Aufgabe bevor."

(HvK, Das Spektrum Europas, Heidelberg 1928, Seite 378)

 

Archibald Graf v. Keyserling (1882 – 1951), vor dem II. Weltkrieg Admiral und Gründer der lettischen Kriegsmarine, setzte 1946 eine Denkschrift für die Regierung Kanadas auf, in dem er die Gründung eines baltischen Territoriums in der Kronkolonie anregte. In seinem Memorandum pries er die Deutschbalten als eine bunte Mischung verschiedenster Völker, „so dass sich kaum noch sagen lässt, welches Stammes sie sind“ – fleißig, progressiv und reformorientiert. Der Sinn dieser Ausführung war klar: Sympathiewerbung in einer Zeit, in der Deutsche nicht besonders beliebt waren. Ein Beispiel dafür, wie leicht Identitäten auch bewusst verändert oder manipuliert werden können.

 

Wie es sich für einen Dialog gehört, hatten die Teilnehmer auch die Gelegenheit, selbst über die Fragen rund um die baltische Identität zu diskutieren. Im „World-Café“ beschäftigten sie sich in wechselnder Zusammensetzung mit den Fragen einer gemeinsamen baltischen Identität, dem Einfluss des russischen Imperiums auf die Kultur, Minderheitenkulturen und der Beziehung zwischen Deutschbalten und den heutigen baltischen Staaten.

 

An Gemeinsamkeiten, die alle historischen und modernen Einwohner des Baltikums vereint, wurde im Wesentlichen, auch wenn es oberflächlich und prosaisch klingt, der Wodka und die mit ihm verbundenen Rituale identifiziert. Ansonsten gebe es bestenfalls Schnittmengen, so der protestantische Glaube bei Deutschbalten, Esten und Letten oder die führende Rolle im russischen Reich, die uns mit dem russischen Adel verbindet.

 

Die Organisatoren des Ritterschaftlichen Dialogs in Person von Nicolai v. Cube als Vorsitzendem des Beirats der Öselschen Ritterschaft, Konstantin und Julius Barone Freytag von Loringhoven sowie David und Kerstin von Lingen sorgten nicht nur für ein interessantes Programm und einen reibungslosen Ablauf. Sie stellten auch sicher, dass alle Teilnehmer sich aktiv in diesen anregenden Dialog einbringen konnten und mit neuen Gedanken zu ihrer baltischen Identität nach Hause gehen könnten.

Gregor v. Kursell